Gesundheit und Krankheit
Das ursprüngliche Leben scheint gesünder gewesen zu sein: frei von epidemischen Krankheiten und reicher an Lebensstilen und oft auch an Ernährungsmöglichkeiten.
Auch die von einer weltumspannenden Technologie geschaffene lebensfeindliche Umwelt und die von ihr freigesetzten Fremdstoffe spielen eine zunehmende Rolle.
Vorgeblich ist Krankheit eine Geißel der Natur, Pesthauch unkultivierter Sümpfe und Wälder, Produkt des Zerfalls und der Verwesung, oder die mikrobielle Kontamination, die wilden Pflanzen, Früchten und dem Wasser anhaftet.
In Wirklichkeit ist in den meisten Fällen die von den Menschen geschaffene Umwelt die Quelle der Krankheit, insbesondere sind es die in seiner Umwelt selektierten und an ihn angepassten spezifischen Pathogene.
Die Gesundheit des Individuums wird stärker durch Einwirkungen anderer Menschen gefährdet als durch die natürliche Umwelt - erklärt sich dadurch die seit jeher hohe Lebenserwartung in abgelegenen Bergtälern?
Die von Menschen gemachte Umwelt ist andererseits offenbar auch die Quelle seiner Gesundheit und Langlebigkeit. Und der gesellschaftliche Kontext wird so sehr als das Normale akzeptiert, dass viele Menschen in genialer Einfachheit den Rückschluss ziehen: "Gesundheit ist eine Stoffwechselerkrankung" (Egon Friedell).
Die erst seit wenigen Generationen stark erhöhte durchschnittliche Lebenserwartung wird oft mit einer verbesserten Hygiene und Medizin in Verbindung gebracht.
John McNeill meint hingegen, die außergewöhnliche Bevölkerungszunahme im 18. Jh. sei durch eine natürliche Anpassung an eine Reihe tödlicher Krankheiten erfolgt, nicht durch ihre bewusste Bekämpfung. Auch das Ende der Kleinen Eiszeit habe dazu beigetragen. [McNeill 2005]
Tatsächlich birgt auch die vom Menschen unbeeinflusste Natur immer noch die Potentiale neuer entsetzlicher Krankheiten wie Ebola, deren verheerende Wirkung darin besteht, dass es offenbar noch keine Anpassungen an sie gibt.
Während, wie erwähnt, die gefährlichsten Krankheiten unter den Bedingungen engen menschlichen Zusammenlebens entstanden, sind andere tödliche Infektionskrankheiten auf Wildtiere zurückzuführen.
Nicht nur AIDS und andere Krankheiten, die von der afrikanischen Fauna ausgebrütet wurden. Auch in der stark zivilatorisch überformten Welt gibt es solche Krankheiten.
Neuerdings sind Zecken in starker Ausbreitung begriffen, die gefährliche Krankheiten übertragen; in den USA kam es zu einer starken Ausbreitung der Lyme-Krankheit, die durch eine Zecke übertragen wird, die sonst Rehe und Mäuse befällt.
Der Fuchsbandwurm, übertragen durch den Verzehr von Wildfrüchten, war früher für den Menschen tödlich.
Ein weiteres weltweit verbreitetes Infektionsrisiko ist die Übertragung des bei Gärtnern gefürchteten Wundstarrkrampfs (Tetanus), dessen Sporen offenbar überall überdauern können, und der auch Pferde und andere Huftiere befällt.
Überhaupt sind Wundinfektionen bei Mensch und Tier eine wichtige Todesursache, obwohl nur ein sehr geringer Anteil von Wunden infiziert wird. Früher waren Wundinfektionen bei der Geburt eine Hauptursache für das geringe Wachstum der menschlichen Populationen.
Infektionskrankheiten
Es gilt als östliche Weisheit, dass der Mensch dank spiritueller Erkenntnis immun gegen die Unbillen der Existenz werden könne.
Vor Schmutz darf man keine Angst haben, daher waren tibetische Bräute besonders stolz auf ihre Schmutzkruste [Herbert 1959].
Auch in der westlichen Welt war die Nachlässigkeit im Umgang mit den infektiösen Krankheitspotentialen der menschlichen Gesellschaft Jahrhunderte lang politisch angesagt, so beim Umgang mit Abfällen und Fäkalien und bei chirurgischen Operationen à la Doktor Semmelweiß.
Zuweilen scheint diese Nachlässigkeit gerne in ein pseudoökologisches Gewand gekleidet worden zu sein. Ursache und Wirkung infektiöser Krankheiten wurden aber verwechselt - nicht eine äußere Natur ist der Wirt und die Ursache von Infektionskrankheiten, sondern der Schmutz des Menschen.
Allerdings besteht eine unbestimmte Hoffnung, dass im Schmutz nicht nur die Krankheitserreger des Menschen stecken könnten, sondern auch deren Antagonisten.
Die verheerendsten, weil epidemischen Infektionskrankheiten haben sich aus Krankheitserregern der Haustiere entwickelt, die sich an den Menschen anpassten!
Obwohl es in Amerika mit Europa vergleichbare Bevölkerungsdichten gab, hatten sich hier keine gefährlichen Infektionskrankheiten entwickelt, weil es keine großen Haustier-Populationen gab. [Diamond 1998]
Der nächste Verwandte des Masern-Virus ist der Erreger der Rinderpest, inzwischen können die beiden Viren allerdings nicht mehr auf die jeweils andere Art überspringen. Auch Pocken und Tuberkulose werden auf nahe verwandte Viren- bzw. Bakterien-Krankheiten des Rindes zurückgeführt. Keuchhusten ist ein Abkömmling der Krankheiten von Schweinen und Hunden. [Diamond 1998]
Viehhaltung in großen Verbänden wurde zur Vorstufe der Entstehung der epidemischen Infektionskrankheiten des Menschen.
Handelswege und die Städte als deren Ziel bildeten die Voraussetzung großer Seuchenzüge wie die Pocken 165 - 180 in Rom und die Pest 542/3 in ganz Europa.
Die Zeit der Entdeckungen und Eroberungen durch die europäische Seefahrt bildete den nächsten Schritt verheerender Epidemien: die außereuropäischen Zivilisationen wurden bei Kontakt mit den Europäern durch ein Dutzend Infektionskrankheiten stark geschwächt (und nicht unbedingt infolge einer technologischen Überlegenheit der Europäer).
Beispielsweise wurde die Bevölkerung Hawaii's durch Epidemien von 1 Mio. auf einige 10000 reduziert [Diamond 1998]. (Ähnliches wäre sogar von der Dayak-Kultur Borneos zu vermuten.)
Wegen der entstehenden Krankheitsresistenz braucht der Erreger große Wirtspopulationen, um latent erhalten zu bleiben, was bei kleinen Stammesvölkern nicht möglich ist. Diese laufen allerdings Gefahr, bei einer Infektion von außen gänzlich ausgelöscht zu werden.
Grippe, Pest und wahrscheinlich auch die Pocken sind in China entstanden. Epidemische Krankheiten der chinesischen Zivilisation könnten demnach auch als Vernichter der Urvölker Chinas gewirkt haben.
Teilweise ist für den Entwicklungszyklus der Parasiten ein Wirtswechsel nötig, wobei der Endwirt die Agenten der sexuellen Reproduktion erzeugt [Wittig/ Streit 2004].
Mücken und Flöhe oder eben die Pestratten der dunklen Jahrhunderte sind lediglich die Vektoren krankheiterregender Parasiten, und diese Vektoren sind oft Kulturfolger.
Pathogene Mikroorganismen erreichen ihre Verbreitung durch ständige genetische Veränderungen! Dabei scheint ein Trend zu bestehen, durch Abschwächung der Virulenz die Ausbreitungschancen des Erregers zu vergrößern. So führte die ursprünglich viel virulentere Syphilis bei starker Geschwürbildung zu einem schnellen Tod. [Diamond 1998]
Die effektivste Ausbreitung der Erreger erfolgt gerade durch die von diesen selbst erzeugten Symptome (Auswurf, Durchfall, Geschwüre).
Allerdings bildet ein Organismus bei Überstehen der Krankheit Antikörper, die ihn immunisieren. Die Ausbreitung und das erneute Auftreten von Epidemien erfolgt daher wegen dieser Antikörper in Zyklen. [Diamond 1998]
Schon recht früh hat man diesen Mechanismus der Autoimmunisierung erkannt und in Form von Impfungen nachgeahmt. Johanna Schopenhauer berichtet aus der neu entstandenen französischen Republik, dass den Kindern "auf Befehl der Regierung" jedes Jahr "die Schutzblattern eingeimpft [wurden]; hier, wo noch vor wenigen Jahren der Aberglaube in dieser wohltätigen Vorsichtsmaßregel einen Eingriff in die Rechte Gottes sah und eine Todsünde damit zu begehen glaubte" [Schopenhauer 1825].
Speziell die Tropen bilden für manche Europäer die Matrix der Krankheit durch viele unerkannte potentielle Erreger, denn tropische Krankheiten sind für Fremde oft viel gefährlicher als für die Einheimischen.
In den Tropen gab es tödliche Infektionskrankheiten, gegen die die Europäer geringe Abwehrkräfte besaßen, die aber trotzdem erst durch die Europäer nach Amerika gebracht wurden: vor allem die Malaria, außerdem das Gelbfieber aus Afrika und die Cholera aus Asien [Diamond 1998].
Die Cholera ist wahrscheinlich erst relativ spät in tropischen Verdichtungsräumen entstanden.
Die Unbewohnbarkeit Neuguineas für Europäer wegen der hier grassierenden Malaria und anderen Tropenkrankheiten bewahrte die einheimische Bevölkerung möglicherweise vor den Infektionskrankheiten Eurasiens. Auch könnten sich hier infolge der relativ hohen Dichte der neuguineischen Bevölkerung Abwehrkräfte gegen eingeschleppte Krankheiten entwickelt haben [Diamond 1998].
Im Gegensatz zu heute hatten die Kolonisatoren Afrikas infolge des niedrigen Geburtenüberschusses wegen der vielen Tropenkrankheiten mit einem Mangel an Arbeitskräften zu kämpfen.
Selbst für die Kakao-Plantagen der vergleichsweise winzigen Inseln São Tomé und Príncipe musste eine sehr große Zahl Arbeiter aus anderen portugiesischen Kolonien angeworben werden. Noch unter den verbesserten sozialen Bedingungen nach Aufhebung der Sklaverei forderten hier Schlafkrankheit und Tuberkulose einen hohen Tribut an Menschenleben. [Winiwarter/ Bork 2014 - Kap. 2.4]
Bis in nicht allzu ferner Vergangenheit bildeten die Häfen Südeuropas das Tor zu den Tropen als medizinischer Gefahrenzone.
Wegen der "gefährlichen Nähe des Orients" verlangsamte in den wichtigen Häfen Marseille und Sète die drastische Durchsetzung der Quarantäne (durch standrechtliche Hinrichtung) das Reisen und den Transport. In Marseille wurde die strenge Quarantäne auf der dem Hafen vorgelagerten Insel Pomègues kontrolliert und auf den Schiffen selbst oder in abgesonderten ausgedehnten Gebäudekomplexen umgesetzt. Zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen befanden sich auf den Rathauswänden Darstellungen der letzten Pest von 1720. [Schopenhauer 1825]
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