Merkmals-Klassifikation (Forts.)


Chemosystematik

Schon früh dürften Inhaltsstoffe als Kennzeichen von Pflanzenarten erkannt worden sein. Aussagekräftige Analysemethoden (Chromatographie, Spektroskopie) kamen aber erst nach dem 2. Weltkrieg zum Einsatz; seit 1965 gibt es ein "Committee on Chemotaxonomy" (Wagenitz 1996).

Auch Inhaltsstoffe können nicht als einziges systematisches Merkmal Gewicht erhalten, denn in der Chemotaxonomie gibt es Stoffe wie Nicotin, die nicht verwandte Gruppen gemeinsam haben.


Nach der 'Strukturellen Systematik' anhand von Blütenbau, Palynologie, Bestäubungsökologie, Bau und Verbreitung der Frucht erlebte die Chemosystematik am Ende des 20. Jh.s eine rasante Entwicklung.

Isoenzyme (mit gleicher Funktion, aber unterschiedlicher Struktur) wurden analysiert, um die Beziehungen innerhalb naher Verwandtschaftsgrade zu bestimmen; hierbei wird das "Wanderungsverhalten im elektrischen Feld" der jeweiligen speziellen Isoenzyme miteinander verglichen (Hess 2005).

Die 'Molekulare Systematik' befasst sich mit den Makromolekülen (Proteine, DNA). Sie zieht zum Beweis verwandtschaftlicher Beziehungen nicht allein die Inhaltsstoffe der Pflanzen heran, sondern auch ihre genetischen Eigenschaften.


Natürlich ist auch das pflanzliche Genom ein legitimes oder vielleicht sogar das beste taxonomische Merkmal. Somit wärer seine chemische Analyse zur Klärung von Verwandtschaftsverhältnissen ein geeignetes Mittel. Aber infolge seiner enormen Komplexität bei permanenter Wiederholung einfacher Grundkomponenten ist das spezifische Genom keineswegs leichter zu untersuchen als das äußere Erscheinungsbild.

Dieser Weg scheint vor allem eine Aufgabe für Informationstechnologie und Datenverarbeitung darzustellen - die organismische Welt ist zu einer Beschäftigungstherapie für kostenaufwändige Rechenanlagen geworden.

Da es sich bei den Genen eher um Protein-Substanzen als um lebensfähige Systeme handelt, führt die Beschränkung der systematischen Biologie auf diese zwangsläufig zur Auflösung der organismischen Gestalt, der Artgrenzen und des ganzen Taxon-Konzeptes.


Am besten geeignet für die Analyse der Verwandtschaftsverhältnisse sollen die einfachen und stabilen Gene der Chloroplasten-DNA (cpDNA) sein (Hess 2005).


Die "Angiosperm Phylogeny Group" beruft sich auf die zahlreichen molekularanalytischen Studien zur Klärung phylogenetischer Beziehungen, die seit den späten 80-er Jahren erschienen seien (Stevens 2012).
Eine erste großangelegte genanalytische Studie mit sehr zahlreichen Autoren (-> M.W. Chase/ D.E. Soltis et al. 1993) kam zu dem Befund, dass sich bedeutende Angiospermen-Taxa, insbesondere die Hamamelidae und Dilleniidae phylogenetisch nicht rechtfertigen lassen.


Viele Akademiker mögen es nun für eine wichtige Aufgabe halten, die molekulare Struktur der Pflanzenwelt zu sichten und zu sortieren wie vordem Blütenblätter, Reproduktionsorgane und anatomische Gewebsschnitte.


Ökologische Verhältnisse

Artenvielfalt entsteht nicht auf Grund genetischer Verwandtschaft, sondern ständig neu durch alle möglichen Formen der Anpassung.

Äußere Faktoren der Artbildung (Speziation) und Diversifizierung werden aber gerade von den modernen technischen Klassifikationsmethoden außer acht gelassen. Die Betonung der Kladistik verlagert sich auf den historischen Aspekt der Systematik in Form mythischer bzw. synthetischer Stammformen.

Der stärkste Antrieb evolutionärer und damit phylogenetischer Entwicklung waren aber nicht die Gene, sondern die sich ständig wandelnden Umweltbedingungen. Die heute existierenden Pflanzensippen bis hin auf Familien- und Ordnungsebene haben sich als Anpassung an bestimmte Klima- und Umweltbedingungen entwickelt. Ihre Eigenschaften sollten deshalb immer auch als Wechselspiel mit ökologischen Faktoren gesehen werden.

Selbst die synökologischen Beziehungen zu völlig anderen Arten (Koevolution) könnten als Faktor der Speziation wichtiger sein als phylogenetische Beziehungen zu Vorläufern und verwandten Arten.


Bekannte ökologische Anpassungen sind die Windbestäubung, die Anpassung der Ericaceen an extrem saure Standorte, die Symbiose mit Stickstoff-anreichernden Bakterien (bei den Rosiden), die die Besiedlung nährstoffarmer Trockenstandorte ermöglichte, und die besonders effektive Photosynthese-Leistung bestimmter Gruppen (CAM- und C4-Pflanzen), die als Anpassung an CO2-arme Kaltzeiten aufgefasst werden kann.

Phylogenetisch besonders interessant ist auch der Wuchstyp krautiger Wasserpflanzen, der sich gerade in der neuen APG-Systematik oft bei den urtümlichsten Angiospermen findet.


Der ökologische Wuchstyp einer Pflanze liefert im Allgemeinen mehr Hinweise zu ihrer Taxonomie und natürlichen Verwandtschaft als jede phylogenetische Theorie, wenn auch nahe verwandte Typen an verschiedenen Standorten unterschiedliche Wuchsformen entwickeln können.

In diesem Zusammenhang besonders wichtig sind auch die Wuchsformen zonaler und regionaler Pflanzengemeinschaften und Vegetationstypen, weil sie ziemlich exakt die ökologischen Bedingungen eines Standortes, aber auch einer erd- oder stammesgeschichtlichen Epoche widerspiegeln können.

Außerdem haben diese Pflanzenformationen als Ganzes entscheidende Funktionen innerhalb globaler und regionaler Ökosysteme inne, die sich auch wieder auf das Überleben der in sie eingebundenen Pflanzenarten auswirken.

Akzeptiert werden als vollwertiges Klassifikationssystem sollte daher auch eine elaborierte Systematik der natürlichen Formationen des Pflanzenwuchses (der Vegetationtypen) sowie der umweltbedingten artenspezifischen Wuchstypen, wie sie beispielsweise Josef Schmithüsen ("Allgemeine Vegetationsgeographie"; 3. Aufl., 1968.) vorgelegt hat.


Die Biogeografie von Pflanzen-Taxa kann Hinweise auf ihre ökologischen Ansprüche, aber auch auf ihren phylogenetischen Ursprung geben.
Doch haben sich nahe verwandte Arten oft an ganz entfernten Orten in sogenannten disjunkten Arealen entwickelt.

Erst auf Grundlage der Kenntnis geografischer Pflanzen-Inventare (Floren) kann die Verbreitung (Chorologie) einzelner Taxa abgeleitet werden.


Größere reale Bedeutung als die phylogenetische Verwandtschaft der globalen Pflanzenwelt hat sicher die Klassifikation der lokal oder regional vorkommenden Pflanzen für praktische Zwecke - wozu auch ihr Schutz gehört. Häufig kommt es zu Aufteilung der niedrigeren Taxa zur Unterstreichung ihrer regionalen Bedeutung oder wegen ihrer regionalen Vielfalt. Der regionale Aspekt der Taxonomie sollte eher bestärkt als ignoriert werden.

Möglicherweise werden Vorstellungen aus der europäischen Pflanzenwelt zu Unrecht auf exotische Floren transponiert - die Nebel Londons bringen andere Vorstellungen hervor als der blaue Himmel Indiens etc.

Ich könnte mir vorstellen, dass sogar regionale phylogentische Klassifikationssysteme entstehen könnten, wenn den verschiedenen Pflanzen-Eigenschaften, beispielsweise den ökologischen, eine ganz unterschiedliche Gewichtung zugesprochen würde.





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Zur Systematik der Blütenpflanzen


1. Systematik als Taxonomie und Phylogenie

1.1. Neue Methoden

1.2. Parataxonomie

1.3. Ordnungs-
kategorien der Pflanzensystematik

1.4. Kladistik



2. Die Klassifikation der Blütenpflanzen (Angiospermae)

2.1. Die klassische Systematik

2.2. Die "Angiosperm Phylogeny Group"



3. Merkmals-Klassifikation

3.1. Äußere Merkmale

3.2. Klassische Merkmals-Systeme

3.3. Chemosystematik

3.4. Ökologische Verhältnisse



4. Evolution, Phylogenese, Verwandtschaft

4.1. Progressionen

4.2. Verwandtschaft - Beziehungen zwischen den Taxa



5. Fragwürdiger Output der APG-Kladistik

5.1. Beispiele



6. Quellenangaben





Progressionen, Phylogenese, Verwandtschaft





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